Utopicas Büchergalerie  - phantastische und bibliophile Titel aus vier Jahrhunderten

Paul Gurk (1880-1953)

Was sich über Paul Gurk in den einschlägigen Nachschlagewerken in Erfahrung bringen läßt, ist erschreckend wenig und teilweise sogar falsch. Beispielsweise findet sich mehrfach die Behauptung, daß Paul Gurk ein Pseudonym von „Franz Grau“ sei.[1] Es ist jedoch genau umgekehrt! Der Fall ist umso überaschender, als Paul Gurk sich mehrfach selbst über sein Leben geäußert hat. Diese autobiographischen Skizzen liefern die Grundinformationen zu Gurks Vita.

Paul Gurk wird als Fritz Otto Paul Gurk am 26. April 1880 in Frankfurt an der Oder geboren. Er war der Enkel eines Schäfers und späteren Nachwächters. Nach dem frühen Tod seines Vaters, eines Postillions, kommt er im Alter von fünf Jahren zu Verwandten (einem Barbier) nach Berlin, der Stadt, mit der ihn zeitlebens eine tiefe Haßliebe verband.[2] Trotz guter Schulleistungen erhält er keinen Platz an einer höheren Schule - Gurk gilt als Nicht-Berliner - und besucht auf Anraten seiner Lehrer die Präparantenanstalt. 1899 besteht er die Abschlußprüfung am „Königlichen Seminar für Stadtschullehrer“. Eine Anstellung als Lehrer findet Gurk trotzdem nicht, sondern muß sich beim Berliner Magistrat als Bürogehilfe verdingen. Auch im Privatleben läuft nicht alles nach Wunsch. Gurks Freundin Erna Schallock erkrankt an Multipler Sklerose und wird jahrelang von Gurk aufopferungsvoll gepflegt. In seiner Freizeit beginnt Gurk zu dichten, malen und komponieren. Um dem Lärm in seiner Hinterhauswohnung zu entfliehen, fährt er nächtens mit der S-Bahn in Berlin umher und schreibt auf seinen Knien ausgediente Formulare und Einkaufstüten mit Liedern und Dramen voll. Erst nach etwa zehn erfolglosen Jahren wird man auf das nicht mehr ganz junge Talent aufmerksam. 1921 wird sein noch unveröffentlichtes Manuskript „Thomas Münzer“ (nach Günther 285 für Gurks dramatisches Gesamtwerk von dreizehn - unveröffentlichten - Bühnenarbeiten) mit dem Kleist-Preis honoriert. Julius Bab hatte sich energisch für den Unbekannten eingesetzt. In diesem Jahr wird auch das erste Stück auf die Bühne gebracht. 1922 druckt Max Tau in seiner „Bücherei zeitgenössischer Dichtung“ den Novellenband „Dreifaltigkeit“ - das erste Buch Gurks. Seine ersten literarischen Meriten ermutigen Gurk im Jahre 1924[3], den sicheren Beamtenstatus aufzugeben und sich als freier Schriftsteller zu versuchen. In der Folgezeit produziert Gurk mit eiserner Disziplin und unbändiger Phantasie ein Werk, das zu den bedeutendsten, aber auch verkanntesten Leistungen deutscher Literatur des 20. Jahrhunderts gehört. Der Erfolg bleibt aus. In literarischen Kreisen gerät Gurk durch sein unverblümtes Kunsturteil zwischen alle Stühle. Seine Dramen finden wegen ihrer düsteren und verstiegenen Thematik wohl den Beifall der Kritiker, nicht jedoch den des Publikums. Auch die Romanhelden Gurks sind nicht nach dem Geschmack der Leser. Es sind menschliche Außenseiter, die sich und ihre Überzeugungen in einer grausamen Umwelt zu behaupten versuchen. Gurks Bücher verkaufen sich allgemein schlecht und werden teilweise verramscht, so etwa Gurks ambitioniertestes Buch „Berlin“.[4] Verarmt, „unter schauderhaften Umständen, einsam und in einer bis zur Ausschließlichkeit, zum körperlichen Leiden gehenden Menschenscheu“[5] fristet er in einer der berüchtigten Weddinger Arbeiterwohnungen sein Dasein. 1930 zieht der Dichter in einer kleinen Autobiographie zynisch und resigniert Bilanz:

„Seit Jahren wird das dramatische Werk des P. G. nicht gespielt, das epische und lyrische nicht gedruckt. Es ist selbstverständlich, daß das Unterhaltungsgewerbe nicht in einen schwebenden Prozeß eingreifen will, dessen Ausgang ungewiß ist, und der vielleicht nie oder erst nach fünfzig Jahren entschieden wird. P. G. selbst macht keinen Versuch in dieser Richtung. Er ist sich seiner eingeborenen Sünde, über dreißig Jahre alt zu sein, mit tiefer Scham bewußt.“

In der Zeit des Nationalsozialismus ändert sich an den materiellen Verhältnissen Gurks nur wenig.[6] Der menschenscheue Sonderling, in dessen facettenreichem Werk trotz einer konservativen Ausrichtung auch des öfteren Zivilisationskritik laut wird, gilt den Machthabern als uninteressant. Als sich 1943 die alliierten Bombenangriffe auf Berlin verstärken, wird der nunmehr dreiundsechzigjährige Gurk evakuiert und findet in Neinstedt am Harz bei der Familie seiner Nachbarin vorübergehend eine Unterkunft. Frau Ramsauer, von Gurk nur „Madonna“ genannt, war Gurks frühere Sekretärin. Nach Kriegsende zieht er nach Berlin zurück, lebt jedoch weiterhin in prekären Verhältnissen, da man ihm seine Beamtenpension verweigert - die Unterlagen gingen im Krieg verloren oder befanden sich im Berliner Osten - und der erhoffte literarische Durchbruch trotz weiterer Veröffentlichungen ausbleibt. Alt und verbittert stirbt Paul Gurk am 12. August 1953. Fünf Tage später findet die Beerdigung auf dem Friedhof der Domgemeinde in der Müllerstraße statt.

Vor seinem Tod wird Gurk - Ironie des Schicksals - immerhin noch die Anerkennung zuteil wurde, in den PEN-Club aufgenommen zu werden. Für einige Monate kommter sogar in den Genuß einer vollen Pension, da sich der Berliner Kultursenator Tiburtius für Gurk eingesetzt hat.

Gurk setzt seine Nachbarin, die sich bis zu seinem Tod um ihn gekümmert hat, als Erbin ein. Heute befindet sich sein literarischer Nachlaß im Literaturarchiv Marbach. Es ist ein imposantes Werk von 19 Kästen.

Anmerkungen:
[1] Lennartz, Franz: Deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts im Spiegel der Kritik. 1. Band. Stuttgart: Alfred Kröner, 1987. S. 630-632; Rottensteiner, Franz: Paul Gurk. Biographie. In: Körber, Joachim (Hrsg.): Bibliographisches Lexikon der utopisch-phantastischen Literatur. Grundlieferung. Meitingen: Corian-Verlag Heinrich Wimmer, 1984. S. 1. Die beste Darstellung von Gurks Vita findet sich bei Emter, Elisabeth: Paul Gurk (1880-1953). Ein vergessener Dichter aus Frankfurt an der Oder. Frankfurt an der Oder: Kleist-Gedenk- und Forschungsstätte, 1995 (Frankfurter Buntbücher; Bd. 15).
[2] Günther 286 zitiert einen Brief Gurks aus dem Jahre 1929: “Ich lebe seit immerhin 44 Jahren in Berlin und begreife diese ungeheure Häufung von Landschaften, erfüllt von einem der Landschaften ganz ungenügenden Haufen von Menschen und Einrichtungen mit der Haßliebe, die der Dichter gegen Berlin haben muß. Zeugnis ist der Roman “Berlin”, natürlich ungedruckt. Der Roman schildert den Untergang der Seele in Berlin und das Heraufkommen des ungewissen, amoralischen Neuen.”
[3] Günther 285: 1925.
[4] Bereits 1929 hatte sich Günther für diesen Roman interessiert. Gurk schrieb ihm zurück: „Ich habe gerade in den letzten Monaten soviel Jämmerlichkeit von Denen gesehen, die behaupten, deutsche Kultur und Dichtung zu vertreten, zu schützen und ihr ehrenwertes Bestehen zu ermöglichen, und zwar das von allen Seiten, links, rechts und in der Mitte, daß ich nichts besonders Gute darin finde, in dem geographischen Begriff Deutschland zu erscheinen. Der Niedergang ist so katastrophal, uner anteiliger Schuld aller Richtungen, daß jetzt sogar Zeitungen und Akademien z u gackern anfangen ... Persönlich habe ich das Empfinden, als wenn es gar keinen Zweck hätte, wenn ich “Berlin” übersende. Es ist kein Unterhaltungsroman. Vermutlich würde auch keine Partei dafür Reklame machen ... In Deutschland ist nämlich öffentliche Meinung das, wovon man spricht, nachdem es gemacht wurde. Wir haben weder ein Volk noch eine Öffentlichkeit noch eine öffentliche Meinung. Haben Sie wirklich Interesse?“ (286).
[5] Gurk, Paul: Selbstbegegnung. In: Eckart. Blätter für evangel. Geisteskultur, 6. Jg. (Mai 1930). S. 222.
[6]  Gelegentlich findet sich die pauschale Behauptung, daß die Nationalsozialisten die Bücher Gurks generell verboten. Vgl. z.B. Fechter, Paul: Menschen auf meinen Wegen. Begegnungen gestern und heute. Gütersloh: Bertelsmann, 1955. S. 48. Dies ist falsch.

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